Zum Tod von Prof. Paul-Heinz Dittrich

Ein Nachruf von Prof. Sebastian Stier

Bevor ich im April 1991 bei Paul-Heinz Dittrich zu studieren begann, kannte ich kaum Musik von ihm. Einige Partituren, deren eigenwillige Notation für mich damals fremd und anziehend gleichermaßen war, hatte ich zwar gesehen, hörend begegnete ich seinen Kompositionen aber erstmalig in einem Porträtkonzert im Rahmen der „Musik-Biennale-Berlin“ im Februar 1991. Diese erste Begegnung ist mir in eindrücklicher Erinnerung, weil ich erleben konnte, wie Dittrich seine Interpreten bis an die Grenzen der Spielbarkeit fordert und dadurch eine Virtuosität entsteht, die aber keine äußerlich glanzvolle ist, sondern sich – ganz im Gegenteil – in eine intensive Innerlichkeit wandelt. Brüche und schroffe Gesten sind seiner Musik dennoch nicht fremd, allerdings betonen sie eher die zarte Fragilität ihrer Texturen.

Wenig später lernte ich den Lehrer Paul-Heinz Dittrich kennen und konnte feststellen, dass es zwischen seinem Komponieren und seinem Unterrichten kaum einen Widerspruch gab: er forderte zum eigen- und widerständigen Denken auf, zum verantwortungsvollen, aber auch radikal-innigen Umgang mit dem kompositorischen Material. Oft war die Rede davon, man müsse sein Material „kneten“ oder – auch das ein wiederkehrendes sprachliches Bild – es „wie eine Zitrone bis auf den letzten Tropfen ausquetschen“. Mit geradezu fürsorglicher Akribie lebte er dies im eigenen Werk angstfrei vor und konfrontierte die Studierenden (und sich selbst) immer wieder mit kritischen Gedankengängen zum Verhältnis von handwerklicher Strenge und intuitivem kompositorischen Handeln. Wohl wissend, dass das Eine nicht ohne das Andere sein kann, war ihm schematisch befolgte Regelhaftigkeit dabei genauso fremd wie die Beliebigkeit eines „anything-goes“.
Dass er immer auf der Suche nach einer rätselhaften, „unerhörten“ Schönheit war, zeigte auch die Art und Weise, wie er seine Anmerkungen machte: als wäre der Kern eines Gedanken kaum mit Worten zu fassen, formulierte er oft in mehreren Varianten umschreibend; je näher er der Sache zu kommen schien, desto leiser und stockender wurde seine Stimme; am Ende war oft Schweigen – dann musste die Musik selbst sprechen.

Paul-Heinz Dittrich lehrte ab 1960 an der Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin zunächst musiktheoretische Fächer. 1976 kam es zum Bruch und er musste die Hochschule verlassen. Ihm wurde u.a. vorgeworfen, seine Studierenden mit „bürgerlich-dekadenter“ Musik der klassischen Moderne und der Nachkriegsavantgarde Westeuropas bekannt gemacht zu haben.
Nach der politischen Wende kann man es nur als Glücksfall bezeichnen, dass die damalige Rektorin Prof. Annerose Schmidt ihm anbot, nun eine Kompositionsklasse an der Hanns Eisler aufzubauen, die er bis 2002 betreute. Sehr schnell zog der auch durch etliche Gastprofessuren mittlerweile international bekannte Komponist Studierende aus allen Teilen der Welt an und trug dadurch sicher einen Teil zur heutigen internationalen Bekanntheit der HfM bei.

Mit großer Energie setzte er sich für die Neue Musik am Hause ein, vor allem suchte er nach Möglichkeiten, Kompositionen von  Studierenden zu präsentieren. Folgerichtig war er 1993 maßgeblich an der Gründung des „Hanns-Eisler-Preises für Komposition und Interpretation zeitgenössischer Musik“ beteiligt, der bis heute – nun unter dem Titel „Forum Neue Musik“ besteht. Auch holte er renommierte Interpreten zu Meisterkursen an die Hochschule, lebhaft erinnere ich mich an einen Workshop mit dem Arditti-Quartett aus London in Zusammenarbeit mit der Streichquartettklasse von Prof. Eberhard Feltz. Immer war es ihm auch ein Anliegen, die Neue Musik zu einem selbstverständlichen Teil der Instrumental- und Gesangsausbildung zu machen.  

Paul-Heinz Dittrich ist am 28.12.2020 kurz nach der Vollendung seines 90. Lebensjahrs in Zeuthen gestorben. Er war einer der letzten renommierten Vertreter von DDR-Komponisten, die auch über die Landesgrenzen hinweg Beachtung fanden. Ausschließlich seinem Werk und seinen künstlerischen Maximen verpflichtet, weigerte er sich, den kulturellen Indoktrinationen der DDR zu folgen genauso, wie er sich nach der politischen Wende den Bedürfnissen und Anforderungen einer mehr und mehr eventartigen Festivalkultur widersetzte. Dies hatte zur Folge, dass die Anzahl der Aufführungen seiner Werke immer mehr abnahm und er kaum noch Aufträge erhielt. All das hielt ihn aber nicht davon ab, mit Beharrlichkeit und Konsequenz Werk an Werk zu reihen. Das Komponieren war für ihn solang es ging ein tägliches Bedürfnis, ja ein tägliches Glück. Fast alle Kompositionen der letzten Jahre wurden bisher nicht aufgeführt. Es ist ihnen zu wünschen, dass sie irgendwann auf offene Ohren und Herzen treffen werden. 

Berlin, 18. Januar 2021

Prof. Sebastian Stier